Skip to main content

Die vielen Neubauten sind nicht das Problem

05. November 2020

Die Statistik über den Leerwohnungsbestand gibt immer wieder zu reden. In der jüngsten Erhebung des Bundesamtes für Statistik (BfS), die im Oktober veröffentlicht wurde, soll es in der Schweiz 78’832 Leerwohnungen geben. Viele unbewohnte Wohnungen gibt es vor allem im Wynental. Wie sind diese Zahlen zu interpretieren? Nachgefragt bei den Immobilienmaklern Christian Schweizer und Marco Brivio.

rc. Die Statistiker unterscheiden bei der Erhebung der Leerbestände nicht zwischen Miete und Eigentum, Wohnung oder Einfamilienhaus, auch spielt es bei der Zählung keine Rolle, ob der Wohnraum tatsächlich zur Miete oder zum Kauf ausgeschrieben ist. Von den rund 4’583’300 Wohnungen die in der Schweiz zum Zeitpunkt der Erhebung am 1. Juni 2020 gezählt wurden, waren 78’832 unbewohnt. Das entspricht einer Leerwohnungsziffer von 1,72%. So viele wie noch nie. Zu den Gemeinden mit der höchsten Leerwohnungsziffer gehören Gränichen (6,88%), Suhr (7,31%) und Menziken (7,49%). Für Menziken heisst das in ganzen Zahlen: Von den 3124 Wohneinheiten standen im letzten Sommer 234 leer.

Christian Schweizer, Inhaber der Firma CHS Immobilien, Reinach. Warum verbauen Sie gefühlt jeden Quadratmeter, obwohl die Wohnungen offenbar niemand will?
Schweizer: «Eine sehr pauschale Anschuldigung an die Immobilienbranche, die wir sehr oft hören. Wir sind die Bösen. Wir verbauen den letzten freien Platz. Wir sorgen für Leerstände, wir sind ganz einfach schuld an dieser Misere.»

Sind Sie nicht?
Schweizer: «Für mich fehlt hier eine Differenzierung. Es gibt lokale Firmen, die seit Jahren oder sogar Jahrzehnten eine solide Arbeit leisten und hochwertige Objekte erstellen und/ oder vermitteln. Ich habe mit meiner Firma oder mit Projekten, die ich vertreten durfte, in all den Jahren keinen einzigen Leerstand gebaut.»

Also sind die anderen die Bösen?
Schweizer: «Ich will nicht auf andere zeigen. Das Problem ist, dass es im noch Landreserven hat, die man preiswert kaufen kann. Das zieht Investoren an, die sonst nicht in unserer Region tätig sind. Oft sind es institutionelle Anleger, die ganz einfach das Geld anlegen wollen und auf Teufel komm raus Wohnungen aus dem Boden stampfen. Grundsätzlich ist es ja schön, wenn Menziken dermassen attraktiv ist, dass die Gemeinde sogar für internationale Anleger interessant ist.»

Ist das eine Kritik zum Beispiel gegenüber dem Projekt im Hamburg-Areal Menziken, wo ein Investor aus Österreich mit Unterstützung eines Ostschweizer Vermarkters fast 80 Wohnungen bauen wollte?
Schweizer: «Wer der Investor ist, ist sekundär, so lange es eine seriöse Sache ist. Natürlich wäre mir ein einheimischer Investor lieber. Wo ich dann schon eher staune, ist, dass die Vermarktung aus der Ostschweiz gemacht werden soll und frage mich, wie das funktionieren kann. Kundschaft und Markt sind anspruchsvoll, der Aufwand gross. Das geht nicht einfach alles aus einem Büro in irgendeiner Stadt. Dramatisch ist, dass die Rechnung für die institutionellen Investoren auch dann noch aufgeht, wenn die Hälfte der Wohnungen leer steht.»

Marco Brivio, von der Brivio Immobilien GmbH in Muhen, auch im Suhrental und in der Region Aarau wird kräftig gebaut. In Suhr beispielsweise sind in den vergangenen fünf Jahren 485 zusätzliche Wohneinheiten entstanden. Warum?
Brivio: «Bei den aktuellen Negativzinsen ist es für Investoren attraktiver, ihr Geld in ein Objekt mit kleinster Rendite zu investieren, als es auf der Bank liegen zu lassen.Wie es mein Kollege bereits gesagt hat, betrifft das vor allem ortsfremde Investoren, die weder die Altersstruktur einer Gemeinde kennen, noch den Bedarf der lokalen Bevölkerung. Zentral ist die Investition. Zeitlassen und Geduld haben steht bei diesen Investoren nicht im Vordergrund.»

Was könnte ein solcher Bedarf der lokalen Bevölkerung sein?
Brivio: «Ich mache Ihnen ein Beispiel: Ich hatte hier in Muhen ein Ladenlokal an attraktivster Lage zu vermitteln. Es gab viele Interessenten, doch es brauchte einige Wochen, um für das Lokal eine passende Lösung zu finden.»

Wie meinen Sie «passend»? Ihnen kann es ja egal sein, mit wem Sie Ihr Geld verdienen.
Brivio: «Das sehe ich nicht so. Ein seriöser Immobilien-Vermittler schaltet nicht einfach ein Inserat und sagt sich ‹Hauptsache verkauft oder vermietet›. In einem ‹Ü-50-Quartier› muss man nicht Familien mit kleinen Kindern unterbringen wollen und bei einem Wechsel in einem Ladenlokal muss das neue Geschäft in die Struktur eines Dorfes passen. Um auf das Beispiel von vorhin zurück zu kommen: Überspitzt formuliert kann es weder in meinem noch im Interesse der Bevölkerung sein, dass in der gleichen Strasse fünf Pizzerias betrieben werden. Das hat Einfluss auf weitere Verkäufe, auf die Attraktivität der Wohnlage, usw. Auch bei Neubauten sollte ein lokaler Immobilienhändler schon während der Planungsphase einbezogen werden. Wir kennen die Strukturen in einem Dorf und die Bedürfnisse der Menschen, das geht ortsfremden Vermittlern völlig ab.»

Man könnte fast sagen, Makler sind die besseren Ortsplaner?
Brivio: «Soweit würde ich nicht gehen. Aber wenn in den Augen vieler Menschen zu viel gebaut wird, liegt das nicht in erster Linie am lokalen Makler, das möchte ich ins richtige Licht rücken.»

Das klingt jetzt sehr nach Werbebotschaft. Lassen Sie uns die Lage von einer anderen Seite angehen: Müsste der Gesetzgeber die Zahl der Wohnungen festlegen, die maximal leer sein dürfen, bevor etwas Neues gebaut werden darf?
Schweizer: «Immer wieder wird in Leserbriefen und Onlinekommentaren gefordert, das Bauen sollte eingeschränkt oder verboten werden. Tatsache ist aber, dass die Gemeinden in der die Hausaufgaben gemacht haben und die Bauordnung und die Bauzonenpläne unter Einbezug der Bevölkerung überarbeitet haben. Diese jetzt durch neue Regulierungen einzuschränken, wäre der falsche Weg.»

Sollte man die Hürde bei der Finanzierung und Tragbarkeit einer Hypothek senken, quasi um das Eigentum, den Mittelstand und damit den Wohnungsbedarf zu fördern?
Brivio: «Es macht ganz klar Sinn, gewisse Sicherheiten zu schaffen, um eine Überschuldung zu vermeiden. Man kann bei der Tragbarkeit sicher über die 5%-Hürde sprechen, denn es ist nicht abzusehen, dass die Zinsen bald wieder steigen. Da muss man aber vorsichtig sein.»

Schweizer: «Ich finde die hohe Hürde gut. Neben dem eigentlichen Zins gibt es ja noch viele kurzfristige Nebenkosten. Oder bedenken Sie, wenn ein Stockwerkeigentümer Nebenkosten oder grössere Instandhaltungen nicht mehr bezahlen kann, dann ist das eine Katastrophe für die anderen Miteigentümer der Liegenschaft.»

Noch ein Versuch: Müssten die Gemeinden mehr Einfluss darauf nehmen, wie viele kleine oder grosse Wohnungen gebaut werden?
Schweizer:«Was gebaut wird, entscheidet grundsätzlich die Nachfrage. Wenn wir übrigens von einem grossen Leerwohnungsbestand sprechen, sind nicht die Neubauten das Problem. Tatsächlich sind die Neubauten meistens gut besetzt, dagegen sind es ältere Wohnungen die leer stehen. Wir stellen fest, dass viele Menschen grössere Wohnungen suchen.»

Brivio: «Und das ist übrigens eine Auswirkung von Corona. Viele Firmen haben ihre Angestellten ins Home Office geschickt und gemerkt, dass dieses Modell auch ohne Pandemie interessant ist. Dadurch werden Wohnungen mit einem zusätzlichen Zimmer gesucht und umgekehrt werden weniger kleine Wohnungen oder Büroräume benötigt. Da findet derzeit eine Verschiebung statt.

Fazit: Die Arbeit lokaler Immobilienmakler ist besser als ihr Ruf und gebaut wird vor allem, weil die Zinsen tief sind. Wird sich der Leerwohnungsbestand auf absehbare Zeit erholen, oder zumindest stagnieren, wenn die Landreserven aufgebraucht sind?

Brivio: «Es wird wohl so sein, dass auf Parzellen, auf denen heute alte Einfamilienhäuser stehen, zunehmend Mehrfamilienhäuser entstehen. Die Zinsen werden im tiefen Bereich bleiben, das gilt sowohl für Hypotheken, wie auch für Zinsen auf Guthaben, was die Investoren weiter investieren lässt. Unsere Aufgabe als lokale Immobilien-Makler ist und bleibt es, die Entwicklung positiv zu beeinflussen.»

Quelle: Wynentaler Blatt, 5.11.2020